Studie in Science: Mädchenbeschneidungen eher aufgrund privater Überzeugung als sozialer Normen

Eine neue Studie von Forschern der Universität Zürich stellt die vorherrschende Auffassung über die Ursachen der Mädchenbeschneidung in Frage. Gemäss dieser Auffassung beschneiden Familien ihre Töchter, um den Erwartungen anderer Familien zu entsprechen. Die in Science veröffentlichte Studie zeigt aber, dass das Beschneidungsverhalten von Familien sehr unterschiedlich ist und persönliche Wertvorstellungen innerhalb von Familien eine wichtige Rolle spielen. Diese Resultate stellen die Annahmen vieler Kampagnen gegen Mädchenbeschneidungen in Frage.

Studie in Science: Mädchenbeschneidungen eher aufgrund privater Überzeugung als sozialer Normen

Hilfsprogramme zur Abschaffung von Mädchenbeschneidung basieren oft auf der Annahme, dass Mädchenbeschneidung eine auf Koordination beruhende soziale Norm ist. Die Koordinierung von Verhalten in Gemeinschaften vorausgesetzt, stimmen sich Familien dahingehend ab, dass sie ihre Töchter beschneiden und zugleich beschnittene Töchter für ihre Söhne verlangen. Wenn also die meisten Familien ihre Töchter beschneiden, haben alle Familien einen Anreiz, ihre Töchter zu beschneiden, um sie als erwachsene Frauen verheiraten zu können. Ebenso haben Familien einen Anreiz, ihre Töchter nicht zu beschneiden, wenn die meisten Familien ihre Töchter nicht beschneiden und ihre Söhne mit unbeschnittenen Frauen verheiraten. Wenn Familien sich bezüglich Mädchenbeschneidung also untereinander abstimmen, folgen alle Familien der lokalen Norm bezüglich Beschneidung. «Ist diese Annahme korrekt, würden Mädchenbeschneidung lokal universell angewandt werden oder lokal komplett abwesend sein», erklärt Sonja Vogt vom Department of Economics der UZH und Hauptautorin der Studie. «Wenn es eine Beschneidungsnorm gibt, kann keine einzelne Familie sich abweichend verhalten, ohne stigmatisiert zu werden.»

Neue Methoden

«In den Gemeinden unserer Studie werden Mädchen, kurz bevor sie beschnitten werden, die Füsse mit Henna bemalt. Diese Tradition haben wir genutzt, um kulturell angemessen die Beschneidungsraten zu berechnen», erklärt Sonja Vogt. Zudem entwickelten die Wissenschaftler der UZH einen Test, um Einstellungen gegenüber Mädchenbeschneidung zu ermitteln. «Der Test war so gestaltet, dass er die Einstellungen misst, die erwachsene Gemeindemitglieder möglicherweise nicht explizit offenbaren möchten. Zudem haben wir mobile Computerlabors verwendet, um die Anonymität der Teilnehmer vollständig zu wahren», so Charles Efferson, ebenfalls Hauptautor der Studie.

Erhebliche Heterogenität

Überraschenderweise variieren sowohl die Einstellungen als auch das Beschneidungsverhalten enorm zwischen den Gemeinden und innerhalb der Gemeinden. Charles Efferson fasst die Ergebnisse folgendermassen zusammen: «Familien, die ihre Töchter beschneiden und solche, die ihre Töchter nicht beschneiden, wohnen quasi Tür an Tür. Die enorme Heterogenität weist darauf hin, dass anstelle einer sozialen Norm im Sinne von Koordination private Überzeugungen eine bedeutende Rolle spielen, die sich zwischen Familien und Einzelpersonen unterscheiden.»

Private Gründe für Beschneidung

Diese Ergebnisse haben wichtige Implikationen für den weitverbreiteten Ansatz von Entwicklungsorganisationen, Mädchenbeschneidung mittels öffentlicher Kundgebungen zu bekämpfen. Entwicklungsorganisationen versuchen in Gemeinden Familien dazu zu bringen, sich öffentlich gegen Mädchenbeschneidung auszusprechen. Wenn genügend Familien an diesen Kundgebungen teilnehmen, sollten alle Familien erkennen, dass ihre unbeschnittenen Töchter als erwachsene Frauen bessere Heiratschancen haben. Alle Familien sollten nun bereit sein, gemäss der neuen Norm ihre Töchter nicht zu beschneiden.

Die Studie legt nahe, die Wirksamkeit von öffentlichen Kundgebungen zu hinterfragen. «Aufgrund der enormen individuellen Heterogenität laufen die Entwicklungsorganisationen Gefahr, mit öffentlichen Kundgebungen einfach jene Familien zu versammeln, die bereits dazu neigen, auf Beschneidung zu verzichten», erklärt Sonja Vogt. «In diesem Fall hat eine öffentliche Erklärung keine Auswirkung auf die restlichen Familien in einer Gemeinschaft. Diese Familien beschneiden aus privaten Gründen und weniger, weil sie sich mit anderen Familien abstimmen möchten.»